Menschliche Schutzsysteme

Wie wir auf Bedrohung reagieren => unsere Schutzsysteme 

Wir verfügen über drei fundamentale Schutzsysteme (neuronale Energiesysteme => Nervensysteme), die unsere Verhaltensweisen und Emotionen steuern. Diese verschiedenen Nervensysteme haben sich über Jahrmillionen entwickelt, erfüllen verschiedene Aufgaben und sind voneinander abhängig.

 

1. Schutzsystem: „Soziales Engagierunssystem“

Dieses Schutzsystem gibt es nur bei Säugetieren und es ist über 80 Millionen Jahre alt. Dieses Schutzsystem existiert in seiner differenziertesten Form bei Primaten und bei Menschen und es steuert komplexe soziale Beziehungen und Bindungsverhalten. Dieses entwicklungsgeschichtlich jüngste System mobilisiert die unwillkürlichen Muskeln in Kehlkopf, Gesicht, Mittelohr, Herz und Lungen. In ihrem Zusammenspiel werden unsere Emotionen für uns selbst und für andere sichtbar. Dieses hoch komplexe System steuert sowohl unsere Beziehungen, Bindungen und Bindungsprozesse als auch unsere emotionale Intelligenz. Das „soziale Engagierungssystem“ steuert auch die soziale Kommunikation und ermöglicht eine Selbstberuhigung durch die Hemmung des „sympathischen Nervensystems (Hemmung sympatho-adrenaler Einflüsse).
Der medizinische Name für dieses Nervensystem ist: „Myelinisiertes Vagussystem“.

 

2. Schutzsystem: „Mobilisierungssystem“ (Sympatisches-Nervensystem)

Das zweite Schutzsystem hat sich vor über 300 Millionen Jahren entwickelt. Dieses umfassende Erregungssystem hat die Aufgabe uns in Gefahrensituationen zum Handeln zu mobilisieren und in bestimmten Situationen verstärkt es unser Handeln, in dem es uns aktiviert anzugreifen oder zu flüchten. Es aktiviert vor allen Dingen die Hände und die Füße, um ganz körperlich anzugreifen oder zu flüchten (Kampf- und Flucht-Reflex).
Der medizinische Name für dieses Nervensystem ist: „Sympathisch-adrenales-System“.

 

3. Schutzsystem: „Immobilisierungs-System“

Dies ist das primitivste Schutzsystem und die Ursprünge dieses Schutzsystems sind über 500 Millionen Jahre alt. Dieses primitive System hat die Aufgabe in bedrohlichen Situationen den Stoffwechsel aufrechtzuerhalten, den Körper in die Bewegungslosigkeit zu bringen (Immobilisierung) und bestimmte innere Organe abzuschalten. Ziel dieses Systems ist das Überleben zu sichern durch das schnelle und gezielte Deaktivieren des Körpers und innerer Organe. Dieses System sorgt in lebensbedrohlichen Situationen dafür, dass wir ganz ruhig werden und auch keinen Schmerz mehr spüren. Der Körper kann dabei in die Erstarrung gehen, so dass Bewegungen kaum mehr möglich sind. Es ist aber auch ein Abschneiden aller Gefühle und Körperempfindungen möglich (Schock) und nach außen funktionieren wir noch so, als wäre nichts geschehen.
Der medizinische Name für dieses Nervensystem ist: „Nicht-myelinisiertes Vagussystem“.

 

Auf welche Bedrohungen reagieren unsere Schutzsysteme?

Das menschliche Nervensystem kann nicht ohne weiteres zwischen einer realen äußeren potenziellen Gefahrenquelle (z.B. lauter Schrei) und der innerlich gefühlten Bedrohung und dem Schmerz einer längst vergangenen Situation unterscheiden. Dies bedeutet, dass die innerlich gefühlte und wahrgenommene Bedrohung sich für das Nervensystem „real“ anfühlt und dementsprechend die Schutzsysteme genauso aktiviert werden, wie wenn die Bedrohung real im Außen stattfinden würden. Deswegen ist es nicht hilfreich die innerlich gefühlte Bedrohung zu bagatellisieren und zu verharmlosen, nur weil der Verstand im Äußeren keine Bedrohung wahrnimmt. Ein Rationalisieren der Situation verhindert bei starker Aktivierung nicht, dass das „sympathische Nervensystem“ und/oder das „Immobilisierungssystem“ reagieren. Es braucht das Wahrnehmen der Reaktionen der eigenen Schutzsysteme und den Respekt sich selbst gegenüber achtsam zu sein. Erst ein richtiger Umgang mit den Schutzmaßnahmen der Nervensysteme führt wieder zu einer Stabilisierung und zu einer Beruhigung des Gesamtsystems.

 

Die Hierarchie unserer Schutzsysteme

Die drei Nervensysteme sind hierarchisch voneinander abhängig. Dies bedeutet, dass in Stress-Situationen auf das weniger differenzierte und evolutionär primitivere System zurückgegriffen wird. Je primitiver das agierende System ist, desto mehr Macht hat es, die Gesamtfunktion des Körpers zu übernehmen. Dabei unterbindet es wirkungsvoll die Funktionen der entwicklungsgeschichtlich jüngeren und differenzierteren Systeme.
Das gilt vor allen Dingen für das „Immobilisierungssystem“, welches das „Soziale Engagierungssystem“ vollständig unterdrücken kann. Wenn man zu Tode erschrocken ist (durch ein äußeres Ereignis oder durch ein aktiviertes inneres Ereignis), hat man nur mehr wenige Möglichkeiten zu handeln. Das „Soziale Engagierungssystem“ ist weitgehend lahm gelegt. Auch das „Sympathische Nervensystem“ (=> steuert Kampf- und Flucht-Reaktionen) blockiert das „Soziale Engagierungssystem“, jedoch nicht so vollständig, wie das „Immobilisierungssystem“.

 

Die Konsequenzen aus der Hierarchie unserer Schutzsysteme

Eine Folgerung aus dieser Hierarchie der Nervensysteme und der nicht Unterscheidbarkeit von äußerer und innerer Bedrohung ist, dass es nicht unterstützend ist, jemanden zu beschuldigen oder zu beschämen, wenn sein System auf Angriff, Flucht oder in die Immobilität geht. Diese Reaktionen sind oft nicht vom „Sozialen Engagierungssystem“ zu steuern oder zu verhindern. Dies bedeutet aber nicht, dass die Person nicht die Verantwortung für ihr Handeln hat und die entsprechenden Konsequenzen übernehmen muss. Es ist daher nicht immer sinnvoll, Vereinbarungen für den Umgang mit bestimmten Situationen zu machen, weil sich die Schutzsysteme in der konkreten Situation nicht um irgendwelche Vereinbarungen kümmern, sondern sich direkt um das Überleben der bedrohlichen Situation kümmern. Die Beschuldigung, dass man sich wieder nicht an eine Vereinbarung gehalten hat, wird der Situation nicht gerecht, dass ein gestresstes Nervensystem auf ein primitiveres mächtigeres Schutzsystem umgeschaltet hat. Ganz im Gegenteil, die Beschuldigung und Beschämung stellt eine weitere Bedrohung für die eigene Existenz dar.

 

Bewusstsein für die Reaktionen der Schutzsysteme

Wie soll ich nun mit den Reaktionen der einzelnen Schutzsysteme umgehen? Der erste und wichtigste Schritt ist mehr Bewusstsein für die eigenen Reaktionen der Schutzsysteme zu entwickeln. Also erst einmal sich selbst beobachten, wie reagiere ich oder besser ausgedrückt: Welches System ist gerade aktiv? Wie reagiert mein System? Welche Reaktionen laufen gerade ab? Sich selbst beobachten, ohne sich zu bewerten oder zu verurteilen. Neugierig auf sich selbst sein und die eigenen Schutzsysteme kennenlernen wollen. Versuchen eine wohlwollende innere Position zu finden, durch die Sichtweise, dass die Schutzsysteme zu Deinem Schutz da sind, auch wenn die Reaktionen nicht immer zu Deinem Wohlbefinden und zu Deiner Sicherheit beitragen.
Durch dieses Beobachten nimmst Du Dich bewusster wahr, lernst Dich genauer kennen und Du identifizierst Dich nicht mehr zu 100% mit Deinen Emotionen und Gefühlen.

 

Der Umgang mit den Schutzsystemen

Jedes Schutzsystem hat seine eigenen Reaktionen und braucht einen besonderen Umgang. Besonders wichtig und interessant sind die Übergänge vom „Sozialen Engagierungssystem“ zum „Sympathischen Nervensystem“ und zum „Immobilisierungssystem“. Mit jedem Übergang werden die Handlungsmöglichkeiten weniger und die Freiheit und Möglichkeit „vernünftig“ zu reagieren wird geringer. Wir werden uns in den nächsten Info-Mails jedes einzelne Schutzsystem näher anschauen und die Reaktionsmuster und Handlungsmöglichkeiten betrachten. Auf diesen Schnittstellen zwischen den Schutzsystemen liegt auch ein Schwerpunkt in unseren beiden Jahrestrainings. In sehr genauen und stark strukturierten Übungen gibt es die Möglichkeit, die eigenen Reaktionen der Schutzsysteme zu erforschen und Werkzeuge zu erfahren, die Dich wieder handlungsfähig machen.